Roland
Czada
Klimapolitik
im sozialen Bundesstaat
ums
Weltklima. Im Vordergrund standen neben der Kernenergiekritik die
Fra-
ge
der Endlichkeit von natürlichen Ressourcen, Wachstumskritik,
saurer Regen,
Waldsterben,
Steinesterben und das Ozonloch; Themen, die zum Teil schon
Jahrzehnte
später wieder in Vergessenheit geraten wären.
Inzwischen, 2021,
ist
die Eindämmung des Klimawandels das Hauptanliegen einer in
Deutsch-
land
im internationalen Vergleich am stärksten
ausgeprägten ökologischen
Wende
und Erneuerungspolitik geworden. Die Ursachen sind weitgehend im
föderalen
politischen System zu suchen, namentlich in bestimmten Merkmalen
des
Parteienwettbewerbs im deutschen Bundestaat, die der langfristigen
Ins-
titutionalisierung
von Kernenergiekritik und Umweltpolitik bessere Chancen
einräume,
als sie in den meisten unitarischen Staaten gegeben waren.
Interes-
santerweise
erweist sich nun das für neue Bedürfnisse wie dem
Umweltschutz
vergleichsweise
offene politischadministrative System als vergleichsweise
hin-
derlich,
wenn es um die effektive Umsetzung der Klima und Energiewende
geht.
Die hohe Durchlässigkeit des politischen Systems für
neue Anliegen,
soziale
Kräfte und Bewegungen erweist sich zugleich als limitierender
Faktor
bei
der Ausführung einer davon ausgehenden Wendepolitik. Um diese
These
zu
prüfen, erscheint ein historischer Rückblick
hilfreich.
Ende
der 1970er Jahre von der Kernkraft loskommen, allerdings nicht aus
ökologischen,
sondern ökonomischen Gründen. Teile der regierenden
SPD
nahmen
Proteste gegen den Bau des unweit gelegenen Kernkraftwerks
Brok-
dorf
zum Anlass für ein energiepolitisches Wendemanöver.
Der Stadtstaat war
über
die Hamburgischen Elektrizitätswerke (HEW) an vier
Kernkraftwerken
beteiligt:
Stade, Brunsbüttel, Krümmel und am Bau des KKW
Brokdorf. Der
zu
erwartende Atomstrom gebot den Einsatz von Elektrospeicherheizungen,
wie
sie bis heute in Ländern mit hohem Kernkraftanteil
(Frankreich, Schwe-
den,
Slowakei, Belgien, Ungarn) verbreitet sind. Dadurch war das
Fernwärme-
konzept
der Stadt gefährdet. Hamburg besaß eines der
ältesten und größten
Fernwärmenetze
Deutschlands, das man nicht für die Kernkraft opfern wollte.
Der
letztlich misslungene Kernenergieausstieg war insofern kohlefreundlich
und
keineswegs klimapolitisch motiviert. Die Initiative zeigt aber, wie
stark
die
Kernenergiedebatte auf Länderebene geführt wurde.
Hessen
und SchleswigHolstein versuchten jeweils nach einem
Regie-
rungswechsel
den Atomausstieg. Dabei nutzten sie die landesrechtliche
Atomaufsicht
zur Verschärfung von Sicherheitsanforderungen und
Überwa-
chungsmaßnahmen.
Joschka Fischer wurde 1985
als erster
GrünenPolitiker
hessischer
Umweltminister und verfügte bald reihenweise
Sicherheitsrevisi-
onen
und Stilllegungen von Atomanlagen, die meist von der Bundesaufsicht
beziehungsweise
durch Gerichtsbeschluss wieder kassiert wurden. Es war ein
PingPong
zwischen Bundes und Landespolitik bis das
Bundesverfassungs-
gericht
am 19. Februar 2002 die „Direktionskompetenz“ des
Bundes feststellte.
Die
Möglichkeit über Regierungswechsel in den
Bundesländern den Ausstieg
voranzutreiben,
wurde so aber nur unwesentlich beschränkt. Da ihnen die
atomrechtliche
Wahrnehmungskompetenz im Rahmen der Bundesauftrags-
verwaltung
(Art 87c GG) verblieben war, konnten sie das Thema weiterhin
„am
Kochen“ halten. So kam es zur Stärkung und
Institutionalisierung der bei
„Grünen“
und bald auch in der SPD einflussreichen AntiAKW Bewegung, wie
sie
in Einheitsstaaten Frankreich, Schweden,
Großbritannien trotz ähnlich
starker
Bürgerproteste nicht möglich war (vgl. Fach/Simonis
1987).
Warum
war die Umweltbewegung in Deutschland erfolgreicher als in
ande-
ren
Ländern, in denen Umweltproteste viel früher
einsetzten? Bereits 1966 ent-
stand
in den USA das „Citizens Energy Council“, ein
Zusammenschluss aktiver
Kernenergiegegner,
als in Europa noch Kernenergiebegeisterung herrschte. Die
erste
europäische Bürgerinitiative gegen Atomanlagen wurde
1968 in Paris
gegründet.
Noch weit frühere Proteste und Ansätze zu einer
eigenständigen
Umweltpolitik
finden sich in Japan, wo bereits in den 1950er Jahren aufgrund
des
massiven industriellen Nachkriegswachstums ein
„ökologisches Harakiri“
beschworen
wurde. Deutschland kann insofern keineswegs als umweltpoliti
sche
Pioniernation bezeichnet werden.
Anders
als in anderen Ländern hat sich der Umweltprotest in
Deutsch-
land
überwiegend an der Kernenergiekritik entzündet. Erste
lokale Proteste
begannen
nicht vor 1972 anlässlich eines geplanten Atomkraftwerkes in
Wyhl
am
Rhein. Das wirtschaftsstarke Kohleland NordrheinWestfahlen war
der
Kernenergie
nie besonders zugetan, und der Stadtstaat Hamburg wollte schon
Neben
Kräfteverschiebungen im Parteiensystem, die von den
Ländern
ausgingen,
konnten die mit staatlicher Förderung erstarkte Lobby der
öko-
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